Siedlungserweiterung Orschel-Hagen im Auftrag der Stadt Reutlingen 2011

Ein Stadtteil soll erweitert werden. Ein Investor hat hierfür eine verkehrliche Erschließungsidee. Diese finden die Bürgerinnen und Bürger alles andere als geeignet. Dass in solch einer Veranstaltung Dampf ist – wer wollte sich da wundern. Die Frage ist nur, bleibt es an einem solchen Abend beim Dampfablassen? Oder gelingt es die Wut-Energie im vollbesetzten Saal umzumünzen in gute Ideen und bessere Alternativen.
Zunächst sah es so aus, als würden nur wenige Bürgerinnen und Bürger den Weg zur Planungswerkstatt Orschel-Hagen, eines 7000 Einwohner umfassenden Stadtteils von Reutlingen, finden. Dann kurz vor 18 Uhr begann sich der Saal urplötzlich zu füllen. Binnen von Minuten waren alle Sitzplätze besetzt, zusätzliche Stühle mussten hereingetragen werden.  Es fiel auf, dass neben zahlreichen älteren Bewohnern, auch Jugendliche und junge Erwachsene in großer Zahl anwesend waren, darunter einige mit Protest-T-Shirts, auf denen die Botschaft des Abends bereits klar formuliert war: keine Strasse zwischen den Kirchen!
Damit war auch schon das Reizthema konkretisiert: nicht die Südderweiterung der 50er Jahre Siedlung im Grünen war der eigentliche Zankapfel sondern die Frage der verkehrlichen Erschließung. Die Ideen des Investors sahen eine Erschließung zwischen den beiden Kirchen vor, die verkehrlich einfachste und mutmaßlich günstigste Variante. Eine Planung allerdings, das wurde schnell deutlich, die das Herz der Ökumene und einen wichtigen Begegnungsraum des Stadtteiles zerschneiden würde.
Schnell war von „Farce“ die Rede, sicher sei alles schon mit dem Investor “eingetütet”, und man wolle hier keine Ideen entwickeln, für eine Erweiterung, die so hier niemand wolle. Die Stimmung, so die Reutlinger Tageszeitung in Ihrer Berichterstattung „drohte zu kippen“. Aus Moderatorensicht war es hingegen wichtig, diesem Sturm der Empörung Raum zu lassen, die Bedürfnisse hinter den Vorwürfen zu hören und deutlich werden zu lassen, was die Menschen hier warum so bewegt. Neben der Wut und dem Ärger kamen somit gute Gründe und zahlreiche Argumente auf den Tisch, die klar machten, weshalb die Erschließung zur Gretchenfrage dieser Planung werden würde.
Methodisch ist das „gestaltende Aushalten“ dieser Empörung bei einem mit 160 Menschen fast schon überfüllten Saal ein “Ritt auf des Messers Schneide” und liegt mitunter jenseits der persönlichen Komfortzone. Aber ohne Raum für diese vorhandene Emotionalität und den glaubhaften Versuch der Moderation Emotionen in Bedürfnisse und Interessen umzuformulieren ist ein späteres konstruktives Gespräch schlichtweg unmöglich.
Unterstützung für einen Perspektivwechsel von der Dagegenwut zum aktiven Mitgestalten gab der fachlich und emotional engagierten Beitrag von Prof. Franz Pesch, Direktor des Instituts für Architektur und Städteplanung der Uni Stuttgart, der Möglichkeiten zum Weiterdenken aufzeigte.
Zudem zeigte die Verwaltung sich lernfähig und sammelte neues Vertrauen. War am Anfang von den Bürgerinnen und Bürgern heftig kritisiert worden, dass kein Vertreter der Bürgerschaft in der Jury zum geplanten Architektenwettbewerb vorgesehen sei und frühere Stellungnahmen aus dem Stadtteil unberücksichtigt geblieben wären, so konnte Martin Goeppert, stellvertretender Leiter des Amtes für Stadtentwicklung und Vermessung im Verlauf der Veranstaltung „grünes Licht“ geben. Noch am Abend wurden zwei Vertreter der Bürgerschaft für die Jury von den Anwesenden bestimmt. Und als Anhang für den Auslobungstext zum städtebaulichen Wettbewerb kommen neben den im zweiten Teil des Abends intensiv erarbeiteten „Qualitätskriterien aus Bürgersicht“ auch eine noch heute aktuelle umfangreiche Stellungnahme der Kirchengemeinderäte aus den 90ger Jahren.
Daß einige der Teilnehmer, die zu Beginn des Abend von “Beteiligungsfarce” sprachen am Ende auf das Moderatorenteam zukamen, um sich für diesen „sehr gelungenen Abend“ zu bedanken („Ich hätte nie gedacht, dass wir hier einen gemeinsamen Schritt nach vorne machen können, Kompliment!“) hat uns gefreut und war ebenso wie das Statement des anwesenden Investors („Ich habe viel gelernt heute Abend“) ein Zeichen dafür, wie Bürgerprotest zu Bürgermitwirkung werden kann.


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